Wurzelechte Rebberge
Seltene kleine Inseln in der Alten Welt
Da der unterirdische Zyklus der Phylloxera in Rebbergen auf Sandböden oder auf Böden mit geringem Lehmanteil nicht stattfinden kann, gibt es in Europa einige seltene kleine Inseln von unveredelten Reben, die von der Reblaus verschont geblieben sind. Diese Reben sind «wurzelecht», wurden also nicht auf einen amerikanischen Stock aufgepfropft. Es haben sogar noch einige uralte wurzelechte Rebstöcke überlebt, die aus der Zeit vor der Reblaus stammen, aus der sogenannten Prä-Phylloxera-Epoche. Sie sind sehr selten, kostbar und gefährdet. Und repräsentieren ein kulturelles Erbe von unschätzbarem Wert für den europäischen Weinbau, das man um jeden Preis schützen muss.
Es gibt weitere Weinregionen ausserhalb Europas, die mit wurzelechten Reben bestockt sind, den Rahmen dieser Revue aber sprengen würden: fast ganz Chile, einige alte Rebberge in Kalifornien, einige Regionen in Australien, im Tibet, in Südafrika usw.
Wurzelechte Reben in der Schweiz
In der Schweiz findet man einige mehre Jahrhunderte alte Spalierreben wie etwa die der Grosse Arvine in Fully, des Alten Landroten (dies der historische Name des Cornalin) in Leuk-Bad oder des Eyholzer Roten in Sitten und Stalden, rar sind aber Rebberge, die ausschliesslich mit wurzelechten Reben bestockt sind. Meines Wissens gibt es nur vier Weine, die offiziell aus Trauben unveredelter Reben gekeltert sind, zwei in Graubünden, zwei im Wallis:
In Graubünden...
- ...der Malanser Completer von Giani Boner, aus einer Parzelle in der Completer Halde bei Malans. Das ist einer der seltensten Completer überhaupt, traditionell und schwierig zu finden.
...produziert Jenny Weine einen Jeninser Blauburgunder «Wurzelecht». Er wächst in einem Rebberg, der gemäss der Legende seit der (vermuteten) Einführung des Blauburgunders im Bündnerland durch den Herzog von Rohan um 1635 immer wurzelecht geblieben sein soll.
Im Wallis...
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...wird aus den Trauben der als «versannes» erzogenen Heidastöcke (alias Savagnin) in Visperterminen die Cuvée Veritas der St. Jodern Kellerei gekeltert.
...gibt es einen 198 m2 grossen Rebberg mit Altem Landroten, der Stéfano Délitroz, Christophe Bonvin und dem Schreibenden, José Vouillamoz, gehört. Er liegt in nächster Nähe des berühmten Clos de Tsampéhro in Flanthey. Sein Alter ist unbestimmt, doch diverse Rebstöcke dürften über 100 Jahre alt sein. Meines Wissens handelt es sich hier um den ältesten Rebberg des Wallis, ja, der ganzen Schweiz. Mit winzig kleinen Erträgen produzieren wir hier im Schnitt zwischen 15 und 90 Liter eines sehr dichten, tiefgründigen und komplexen Weins, der meisterhaft das Potential aufzeigt, das alte, wurzelechte Rebstöcke der Sorte Alter Landroter bieten. Dieser Wein gelangt nie in den Verkauf. Er bleibt guten Momenten mit Freunden vorbehalten.
Sind «wurzelechte Weine» besser?
Auf diese Frage gibt es zur Zeit keine wissenschaftliche Antwort. Dafür müsste man in einer Forschungsanstalt vergleichende Versuche von mehreren Jahren Dauer machen, was bedeutende finanzielle Mittel verlangen würde.
In der Zwischenzeit sind die meisten Winzer, welche unveredelte Reben kultivieren, sowie zahlreiche Weinliebhaber, zu denen ich ebenfalls gehöre, überzeugt davon, dass Weine von wurzelechten Reben mehr Komplexität und Tiefgründigkeit sowie finessenreichere Tannine bieten. Loïc Pasquet, Gründer der Vereinigung «Francs de Pied» (siehe S. 8) und Produzent des weltweit teuersten Weins, des Liber Pater (30’000 Euro pro Flasche!), ist überzeugt davon. Er hat neben Cabernet Sauvignon und Petit Verdot alte Bordelaiser Sorten wie Tarnay, Castets, Saint-Macaire, Pardotte sowie Petite und Grosse Vidure angepflanzt (was in der AOC verboten ist!), alle unveredelt und mit hoher Pflanzdichte von 20’000 Stöcken pro Hektar (ebenfalls verboten in der AOC…). Und ist überzeugt davon, den Geschmack der Weine früherer Zeiten wiederzufinden, den Geschmack des Ortes, den wahren Geschmack des Bordeaux. Loïc Pasquet präzisiert in einem Interview für das Magazin «Terre de Vins» vom 16. Juli 2019: «Es gibt eine Finesse, die man komplett verloren hat. Ein Wein von wurzelechten Reben ist sehr fein, wie eine Wolke, von grosser Reintönigkeit, und er entfaltet eine ganze Palette von floralen Aromen mit Noten von Veilchen, Rosen usw. Ich verwende kein Holz mehr, denn die exogenen Tannine der Barrique bringen diese Finesse zum Verschwinden. Alles wird in Amphoren aus Sandstein vinifiziert und ausgebaut. Selbst ich, der ich die Literatur über die Weine aus der Prä-Phylloxera-Ära gelesen habe, konnte mir keinen derart immensen Unterschied vorstellen. Wenn man einmal einen derart feinen Wein gekostet hat, dann ist es schwierig, auf andere zurückzukommen.»
Ein Tipp: Lesen Sie auch die Spezialnummer der Revue du Vin de France vom Oktober 2022! Sie berichtet u.a. von einer Vergleichsdegustation von französischen Weinen, die einen von veredeleten, die anderen von wurzelechten Stöcken.