Domaine de la Vigne Blanche: (k)ein Beruf mit Zukunft?
Wer durch die Stadt Genf fährt und die Domaine de la Vigne Blanche in Cologny direkt beim Stadtausgang nicht verpassen will, muss scharf aufpassen. Der verträumte alte Bauernhof, 1720 erbaut, mit akkuratem Gemüsegarten und knorrigen Hochstammobstbäumen, scheint ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Rosen ranken sich ums Eingangstor, vor der behäbigen Scheune und dem Stall steht ein Oldtimer, man hört Hühner gackern, eine Katze sitzt auf der Türschwelle und schaut den Besuchern skeptisch entgegen.
Direkt hinter dem Haus wachsen die Reben der Parzelle La Vigne Blanche, von Hecken und schönen alten Bäumen gesäumt – und mit Blick auf die Stadt und den berühmten Jet d’Eau. Nebenan weiden die Pferde und Ponys der Familie. «Ja, es ist ein kleines Paradies», meint Sarah Meylan warmherzig, nicht nur für ihre eigenen vier Töchter, sondern auch für die Schulkinder der Umgebung, die gern auf den Bauernhof mit seinen vielen Tieren kommen, um zu erfahren, woher die Lebensmittel stammen. Nur die Kühe fehlen im Bild, die hatte schon Vater Roger Meylan in den 1970er Jahren verkauft, um ganz auf Landwirtschaft und Rebbau zu setzen.
Wenn der Vater mit der Tochter
«Ich war als Kind immer mit meinem Vater in den Reben und auf dem Traktor, ich wollte nie etwas anderes machen als er.» Doch der Vater befand, das sei kein Beruf mit Zukunft. Sie solle etwas anderes lernen. So absolvierte Sarah die Matura und begann ein Wirtschaftsstudium in Lausanne. «Und war todunglücklich dabei! Als das zweite Studienjahr anfing, brach ich es kurzentschlossen ab und begann dank einer Ausnahmebewilligung am nächsten Tag mein Studium als Ingenieur-Önologin in Changins.» Ein Entscheid, den sie keine Sekunde bereut hat! Und über den heute auch Vater Roger sehr glücklich ist.
«Die Domaine umfasst 30 Hektar Ackerland, 15 Hektar extensive Wiesen und 7,5 Hektar Reben, unterteilt in vier Parzellen. Unsere Familie pachtet das Gut seit vier Generationen.» 2014 wurde Sarah zur Chefin, Vater Roger steht ihr aber weiterhin unerschütterlich zur Seite. Seither heisst es nicht mehr «Roger Meylan et Fille», sondern «Sarah Meylan et Père». «Wir sind zwei Angefressene…», bestätigt sie. Die Umstellung auf Bioanbau (Bio Suisse Knospe) verlief vollkommen natürlich, mittlerweile arbeiten die beiden biodynamisch (noch nicht zertifiziert) und unterstützen die Widerstandskraft ihrer Rebstöcke mit diversen Aufgüssen (Brennesseln, Schachtelhalm, Kamille, Mädesüss). Übrigens: Sarahs Mann, Bertrand Favre, bewirtschaftet wie Sarah ebenfalls mit viel Erfolg einen gepachteten Mischbetrieb nach biologischen Grundsätzen. Bleibt da noch Zeit fürs Privatleben? «Na ja, während der Weinlese stehen wir immer kurz vor der Scheidung», scherzt sie, «aber es ist natürlich toll, sich mit dem Partner austauschen zu können, ohne sich tagtäglich im selben Betrieb aneinander reiben zu müssen…»

Durch und durch ehrliche, kristalline Weine
Später sitzen wir im mit viel Liebe und Geschmack eingerichteten Carnotzet, vor uns eine ganze Reihe von Flaschen, schlicht und stilvoll, wie alles hier. Sarah erinnert sich an eine prägende Erfahrung: «Nach dem Studium in Changins habe ich neun Monate lang in Neuseeland gearbeitet – und das hat mir die Augen geöffnet. Damals erhielten wir wunderbare rote Trauben angeliefert, die alle zusammengemischt wurden und aus denen dann mit etlichen önologischen Tricks und Hilfsmitteln 15 verschiedene, hochpreisige Produkte hergestellt wurden. Ein richtiges Traubenmassaker! Für mich war klar: So will ich auf keinen Fall arbeiten!» Nur eingreifen, wenn es gar nicht anders geht, so schlicht und so rein wie möglich arbeiten. Das ist Sarahs Devise. Seit zwei Jahren verwendet sie ausschliesslich die eigenen Hefen zum Vinifizieren, ausser einem Minimum an Sulfit zum Stabilisieren braucht sie keinerlei Zusatzstoffe. «Ich arbeite ohne jedes Sicherheitsnetz…»
Das Sortiment ist umfassend und qualitativ hochstehend, die Weine bestechen durch absolute Reintönigkeit und eine grosse Harmonie. Gar nicht einfach, sich angesichts von Chasselas, Pinot Blanc, Riesling-Sylvaner, Gewürztraminer, Rosé de Gamay, Pinot Noir, Garanoir, Gamaret, Merlot, verschiedenen roten Assemblagen, darunter natürlich der berühmte Esprit de Genève, für einen Lieblingswein zu entscheiden. Oder doch? Besonders gut gefallen uns der alles andere als überladene Sauvignon Blanc mit seiner knackigen Säure. Und natürlich der typische Genfer Aligoté, kristallin, diskret, lebhaft und mit einer angenehm strukturierenden Herbe im Abgang. Das absolute «coup de cœur» allerdings ist der vielschichtige Gamay mit strahlender Kirschenfrucht, feiner Würze und verblüffendem Tiefgang. Liebe auf den ersten Schluck! Sarah Meylan versteht offensichtlich ihr Handwerk. Und tut genau das, was sie will. Ein Beruf ohne Zukunft? Nein, eine Berufung, die sie voller Begeisterung auslebt!
Tipp von Sarah Meylan
L’Auberge du Lion d’Or
Dupont & Byrne
Place P. Gautier 5
1223 Cologny
Sarah Meylan merkt an: «Dank dem damaligen Küchenchef der Auberge haben wir 1973 angefangen zu vinifizieren. Er wollte einen Wein aus Cologny auf seiner Karte. Ohne ihn hätten wir angesichts der Umstände als Acker- und Weinbauern unseren ersten Jahrgang zweifellos an die Cave de Genève geliefert. Wir verdanken es also ihm, dass wir Selbstkelterer geworden sind. Dank einem simplen Austausch sind wir jetzt, fünfzig Jahre später, da, wo wir sind.»
Le Boteco
Rue Micheli-du-Crest 12
1205 Genf