Castell d’Encús wo Passion gross geschrieben wird
Schon die Anfahrt zum Castell d’Encús ist spektakulär. Immer höher keucht unser Auto in der brütenden Hitze, durch wildes Macchis, da und dort von Olivenbäumen, mediterranen Eichen und Rebparzellen unterbrochen, bis wir endlich in schwindelerregender Höhe auf einem staubigen Parkplatz anhalten und aussteigen. Doch wo ist das Weingut, dass uns eine schicke Tafel ankündigt?
Wie aus dem Boden gewachsen steht der Hausherr vor uns, die nackten Füsse in Sandalen, einen Strohhut gegen die gleissende Sonne auf dem Kopf. Raül Bobet heisst uns willkommen und scheint uns mit einer umfassenden Handbewegung die wilde Landschaft um uns herum vor die Füsse zu legen: Der Blick von diesem Adlerhorst aus ist atemberaubend, trotz der flimmernden Hitze, die das weite Land unter uns in ein milchiges Licht taucht. Gepflegte Rebreihen, alle begrünt und mit Netzen gegen die gefürchteten Hagelschläge geschützt, dazwischen duftende Kräuter, knorrige Bäumchen und Olivenplantagen, ehrwürdige alte Steinmauern, in der Ferne ein Bergdorf, das sich auf einen schroffen Felssporn zu ducken scheint, bewaldete Bergflanken. Es herrscht eine grossartige Stille, nur die Blätter der Bäume wispern leise im glühend heissen Wind.

Mittelalter trifft Zukunft
Mit leuchtenden Augen zeigt uns Raül Bobet sein Reich. Hier, auf fast 1000 Metern Höhe, hatten die Johanniter, auch Malteser genannt, im 12. Jahrhundert ein Kloster errichtet. Ruinen zeugen vom mönchischen Leben längst vergangener Tage, eine kleine romanische Kapelle wurde liebevoll restauriert. Unverändert dagegen sind die riesigen, in die Kalksteinfelsen gehauenen und gegrabenen Gärgruben, tiefe Löcher, die den Mönchen einst zur Produktion ihres Weins dienten und je zwei bis neun Tonnen Trauben fassen.
Und heute? Raül Bobet lacht über unsere verblüfften Gesichter: «Wir machen es genau gleich wie die Mönche – diese natürlichen Felstanks eignen sich hervorragend für die Gärung der Trauben! Die darin vergorenen Weine sind blitzsauber, ohne jeden Fehlton. Das ist jedes Jahr ein einzigartiges Erlebnis, und viele Leute reissen sich darum, beim Füllen der natürlichen Felstanks dabei zu sein».
Nur ein paar Schritte und wir landen vom Mittelalter direkt in der Zukunft. Gut versteckt und harmonisch in den Hang integriert liegt der hochmoderne Keller, der von A bis Z die Schwerkraft nutzt und als Energiequelle ausschliesslich Erdwärme verwendet. Wo sich bei anderen Kellereien der Degustations- oder Verkaufsraum befindet, steht das Labor – hier will offensichtlich niemand Eindruck schinden, sondern effizient arbeiten –, danach steigt man in den kühlen Untergrund. Einen Teil der zahllosen Inoxstahltanks in kleinen und kleinsten Grössen hat Raül Bobet selber entwickelt, mit einem speziellen Filter, damit der Saft nicht zu lange mit den Traubenkernen in Kontakt bleibt.


Ein Lebenstraum wird wahr
«Ich bin der geborene Forscher, ich kann nicht anders…», erklärt Bobet fast entschuldigend. Der gelernte Chemiker und Önologe, der unter anderem im kalifornischen Davis studiert hat, ist heute 58 Jahre alt. Mehr als zwanzig Jahre lang bekleidete er eine leitende Funktion bei einem der bedeutendsten spanischen Weinhäuser, als technischer Direktor bei Torres. «Aber irgendwann habe ich angefangen, von etwas Eigenem zu träumen. Ich war auf der Suche nach einem einsamen Terrain, das für Weinbau geeignet ist und dem Klimawandel widerstehen kann. Als ich diesen Ort hier in der
Region Pallars Jussà im Jahr 2001 zum ersten Mal gesehen habe, war es um mich geschehen…»
Eine richtige Liebesgeschichte also. Doch Raül Bobet ist kein Romantiker. Oder zumindest nicht nur. Er ist vor allem Wissenschaftler. Ein Forscher, ein Suchender, ein Besessener, der unermüdlich alles in Frage stellt. Zuallererst sich selber. «Das ganze Getue um Winemaker ging mir schon in Kalifornien auf die Nerven», meint er trocken. «Oft geht es heute beim Wein nur noch um Marketing. Das ist viel Blabla mit wenig dahinter. Und was in der Önologie heute alles möglich ist, wie an den Weinen gedreht und geschräubelt wird, ist sagenhaft – damit müssen wir dringend aufhören!»
Ihm, dem ehemaligen Universitätsdozenten in Önologie, schwebt etwas anderes, ehrlicheres vor. «Zuerst muss man wissen, wohin die Reise gehen soll. Dann kommt die Forschung. Und erst dann kann man einen eigenen Stil kreieren. Ich muss doch die Variablen von Boden und Klima und jeder einzelnen Rebsorte verstehen. Erst wenn ich das alles haargenau kenne, kann ich einen Stil definieren.» Das brauche mindestens zehn Jahre.
2007 hat Bobet das Gut Castell d’Encús gekauft und den Keller gebaut, ohne Bankkredite, wie er betont, denn er will unabhängig bleiben. «Ich versuche, so bescheiden wie möglich zu leben. Mein ganzes Geld stecke ich in den Betrieb.» Man glaubt es ihm. Der ehemalige Spitzenmanager, der auf modernste Technologie setzt und seine Weine in mittelalterlichen Felsgruben vergärt, ist ein überzeugter Anhänger der indischen Philosophie des Yoga – und dies nicht erst, seit das in der westlichen Welt zum guten Ton zu gehören scheint, sondern seit vierzig Jahren.
Besessen vom Weinbau
Castell d’Encús, dieser Lebenstraum, umfasst insgesamt 95 Hektaren Land, rund 25 davon hat unser Eremit mit Reben bestockt. Die Reben sind nach Südwesten ausgerichtet, vor den Nordwinden geschützt, und profitieren von bester Sonneneinstrahlung. «Kürzlich habe ich noch eine Hektare auf fast 1200 Metern Höhe gekauft, ganz oben auf dem Berggrat. Mal sehen, ob sich Reben dort wohlfühlen werden.» Die Klimabedingungen sind extrem, die wahnsinnige Hitze jetzt im Juli macht ihm Sorgen: «Vermutlich werden wir im August mit heftigen Gewittern und Hagel dafür büssen…» Das Klima ist zwar schwierig, dafür verleihen die grossen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht den Trauben eine hinreissende Aromatik. Und dass die uralten, kalkreichen und mit Fossilien durchsetzten Lehmböden perfekt für Weinbau geeignet sind, wussten schon die mittelalterlichen Mönche.
«Ich bin richtiggehend besessen vom Rebbau», räumt unser Wissenschaftler ein. Er pröbelt mit diversen, vor allem internationalen Sorten, allen voran mit Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc, Merlot, Pinot Noir, Syrah, Petit Verdot, Sauvignon Blanc, Riesling, Sémillon und Albariño – was sich langfristig nicht bewähren wird, will er wieder ausreissen. Die Pflanzdichte ist hoch, bis zu 8000 Stöcke pro Hektare, die Reben begrünt, um der Erosion (bei den wenigen, aber heftigen Niederschlägen ein grosses Problem) entgegenzuwirken. Herbizide, Insektizide und Fungizide sind tabu, zum Einsatz kommen nur biologische und biodynamische Mittel.
Raül Bobet wäre allerdings nicht Raül Bobet, wenn er eine Philosophie wie die anthroposophische Biodynamik einfach übernehmen würde ohne sie zu hinterfragen. «Man kann nicht alle Regeln der in Österreich entwickelten Biodynamik in unserem Klima anwenden», findet er. «Silicium etwa eignet sich eher für feuchte Regionen, nicht für trockene wie die unsere.» Als echter Wissenschaftler will er zuerst den Beweis erbracht haben, dass ein Mittel oder eine Technik wirklich von Nutzen ist. Weinbau und Önologie sind für Raül Bobet stets auch angewandte Forschung. So pröbelt er unter anderem mit verschiedenen Arten der Begrünung. Mit natürlichen Hefen (nur für den Albariño verwendet er im Moment noch selektionierte Hefen). Und natürlich mit der Menge des Schwefels, «gar keiner, wenn möglich, aber wirklich nur so viel wie absolut nötig – da bin ich nicht absolutistisch.»
DO Costers del Segre
Die DO (Denominación de Origen) Costers del Segre wurde 1988 gegründet, ist also eine relativ junge Appellation. Ihren Namen hat sie vom Segre, einem Nebenfluss des Ebro. Sie umfasst rund 4600 Hektaren Reben und liegt im südlichen Teil der katalonischen Provinz Lleida, weit abgelegen vom Meer. Die Reben wachsen in der Regel auf 250 bis 700 Metern über Meer, das Klima ist kontinental und von den nahen Bergen beeinflusst, hart, mit heissen, trockenen Sommern und kalten Wintern, in denen das Thermometer häufig unter den Nullpunkt fällt. Die Temperaturschwankungen innerhalb eines Tages sind beträchtlich, was die Ausbildung intensiver Traubenaromen begünstigt. Die Niederschläge fallen mit 400 bis höchstens 450 mm pro Jahr gering aus, die Sonnenstunden sind mit 2800 pro Jahr bedeutend.
Die Rebberge liegen verstreut, die Böden bestehen zumeist aus sehr kalkreicher Braunerde mit geringem Lehmanteil. Trockenheit, Hagel und Frühjahrsfröste drohen öfter Schäden in den Reben anzurichten.
Dass es die DO Costers del Segre überhaupt gibt, ist vor allem der legendären Weinfamilie Raventós zu verdanken (Besitzerin des Cavahauses Codorníu). Sie erwarb zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein imposantes Anwesen in der Region ; noch heute ist ihr Gut Raimat mit Abstand die grösste Weinproduzentin der DO, deckt es doch mehr als die Hälfte der gesamten Produktion ab.
Als relativ junges und experimentierfreudiges Anbaugebiet hat die DO Costers del Segre, die in sieben Subzonen mit unterschiedlichem Mikroklima unterteilt ist, ein offenes Reglement, das insgesamt 18 rote und weisse Traubensorten zulässt, und zwar sowohl einheimische wie internationale. Die bedeutendsten sind Tempranillo, Cabernet Sauvignon und Merlot bei den roten sowie Chardonnay und Macabeo bei den weissen Sorten.
Weine für Kenner und Liebhaber
Die Trauben werden von Hand gelesen, dann entweder im Stahltank, im Holzfass oder im Fels vergoren und hernach mehrheitlich in Barriques ausgebaut. «Ich suche die Frische im Wein, die Komplexität.» Es sind Weine mit Persönlichkeit, die uns Raül Bobet zu probieren gibt, zahllose Versuchsweine, jede Barrique um Nuancen anders, alle spannend. Besonders vielversprechend die Fassprobe des Cabernet Sauvignon 2014, ein strahlender, saftiger Wein von wunderbarer phenolischer Reife. Oder der im Stahltank ausgebaute Ekam 2013*, eine Cuvée aus Rheinriesling und Albariño, ein glasklarer, sehr rassiger Wein mit ausgeprägter Säure, grosser Tiefe und unglaublich mineralischem Finale. Schlicht eine Wucht dann der aus Sémillon gekelterte Süsswein, lange Jahre in Barriques ausgebaut und von einer aromatischen Komplexität, die uns sprachlos macht. Sotheby’s wollte den ganzen Posten aufkaufen, doch Bobet winkte ab: «Dieser Wein ist nur für Freunde…» Walter Zambelli von DIVO flüstert ergriffen: «Allein für diesen Wein hat sich diese Reise schon gelohnt…»

Raül Bobet meint, kommerzielle Weine interessierten ihn nicht. «Ich mache Weine für Kenner, für echte Liebhaber, die sich wirklich für Wein begeistern. Der Wein hat durchaus eine poetische, magische Seite, man verkauft schliesslich keine Moleküle…» Vielleicht ist er doch ein Romantiker, unser Wissenschaftler ? Der Verdacht erhärtet sich nach der Degustation, als wir wieder
in der Hitze draussen stehen und die betörenden Düfte von Kräutern und Lavendel einatmen, den Blick über diesen isolierten, idyllischen Ort voller Geschichte und Geschichten schweifen lassen. «Die Menschen sind auf dem falschen Weg», sagt Raül Bobet unvermittelt. «Sie haben keine Zeit mehr, um nachzudenken, keine Zeit für Poesie. Ich habe das an mir selbst erlebt. Doch hier kann ich das verwirklichen, was mir wichtig ist. In der Stille leben – und eines Tages in der Stille sterben…»
* Weine von Castell d’Encùs, selektioniert von DIVO und auf der Bestellkarte 10/2016 zu finden:
Die Costers del Segre DO Weine Ekam (Riesling-Albariño) sowie Taleia (Sauvignon-Semillon) und Thalarn (Syrah)
Kleines Paradies im Grünen oder Hotel im Städtchen
Ein idealer Ausgangspunkt für Entdeckungsfahrten zu Weingütern im Hinterland von Barcelona ist das inmitten von Rebbergen gelegene Landhotel Cal Ruget mit zehn gepflegten Zimmern, einem Pool und einem lauschigen Restaurant. Hier geniesst man absolute Stille und ist doch nur 44 Kilometer von Barcelona und 23 Kilometer von Sitges entfernt.
Wer es lieber etwas lebhaft mag, der übernachtet im Städtchen Falset, dem Hauptort der Comarca Priorat, im Hotel Sport, das auch eine gute regionale Küche bietet: www.hotelpriorat-hostalsport.com
Und wer sich eine massgeschneiderte Genussreise zusammenstellen lassen möchte, von Hotels über Restaurants bis hin zu Besuchen auf ausgewählten Weingütern, ist beim Deutschen Florian Porche und seiner Frau Verónica Grimal (die bis vor wenigen Monaten das Hotel Cal Ruget geleitet haben) an der richtigen Adresse: www.visitpenedes.info (ab vier Personen).